Manche Interviews sind mehr als nur ein Gespräch über Bücher – sie sind Begegnungen, die Spuren hinterlassen. 2019 durfte ich Vanessa Walder zum ersten Mal interviewen. Was damals mit einem neugierigen Austausch begann, ist inzwischen eine echte Freundschaft geworden. Vanessa ist für mich nicht nur eine beeindruckende Autorin mit einem feinen Gespür für Sprache, Spannung und Humor, sondern auch eine Mentorin, die mich immer wieder mit ihrer Offenheit, Direktheit und Kreativität inspiriert.
In unserem aktuellen Gespräch dreht sich alles um ihr neues Buch „Nightmore – Das gruseligste Internat der Welt: Plötzlich Werwolf“ – den ersten Band einer vielversprechenden Reihe, in der es humorvoll, düster und herrlich anders zugeht. Viel Spaß beim Lesen dieses Interviews mit einer Autorin, die genauso viel Herzblut wie Biss in ihre Geschichten steckt!

Leo: Die Charaktere sind wirklich außergewöhnlich – von der Selkie Isla bis zum Zombie Edgar. Gibt es eine Figur im Buch, die dir beim Schreiben besonders ans Herz gewachsen ist? Und wenn ja, warum?
Vanessa Walder: Sinista! Ich hab lange gebraucht, bis ich gefunden habe, wer die weibliche Hauptrolle spielen soll. Erst dachte ich, vielleicht eine Vampirin, aber das hat nicht so wirklich gepasst. Und dann hatte ich eines Tages ihre kratzige, raue Stimme im Ohr und da war sie. Ich liebe ihre Art die Welt zu sehen und wäre gerne noch viel mehr wie sie. Super pragmatisch, grausam ehrlich, mega loyal und ohne falsche Scham.
Leo: Wie viel Arbeit steckt in der Planung einer Welt wie Nightmore, in der alles ein bisschen „anders“ ist?
Vanessa Walder: In diesem Fall sehr, sehr viel. Für dieses Buch hat mir der Loewe Verlag an allen Ecken und Enden Ausnahmen gewährt. Und immer, wenn du bestehende Regeln brechen willst, musst du das gut begründen und argumentieren können. Ein Grusel-Erstleser, über 100 Seiten, schwarzweiße Innenillus, ein englischer Titel, englische Namen und Begriffe im Text, schwarzer Humor. Und dann ist da immer die feine Balance zwischen hochwertigem Aussehen und schöner Ausstattung und einem Preis, den man sich auch mit einem kleinen Taschengeld leisten kann. Inhaltlich ging es vor allem darum, eine zeitlose Welt zu schaffen. Ich wollte nicht in der Vergangenheit erzählen, aber ich wollte auch keine Handys und kein Internet im Buch. Irgendwann ist mir klar geworden, dass es in Nightmore einfach keinen Strom gibt. Von der ersten Idee bis zum fertigen Buch sind ziemlich genau drei Jahre vergangen. In der Zeit war ich fast täglich in irgendeiner Form mit Nightmore beschäftigt. Besprechungen, Pitches, Schreiben, Lektorat, Illustrationen, Cover, Schriftarten, Präsentation usw. Aber am Ende ist es für mich wirklich rundum geglückt. Ich könnte Tausende Abenteuer aus Nightmore erzählen. Das Schöne ist: Der Ort ändert sich nicht, die Charaktere sind unsterblich: Das perfekte Setting für eine Serie!
Leo: Warum hast du die Schule ausgerechnet in die Hochmoore Schottlands verlegt – und nicht in ein düsteres Schloss in Transsilvanien oder einen Vulkan?
Vanessa Walder: Die Frage kannst du natürlich immer stellen: Warum da und nicht woanders? Warum der und nicht die? Stephen King hat mal gesagt „Schreiben heißt Entscheidungen treffen“. Für mich war der Ausgangspunkt der Gedanke, dass ich ein Internat erzählen will. Und die sind in Großbitannien einfach üblich, während sie bei uns selten sind. Dann kommt dazu, dass ich Schottland liebe. Ich war selbst als Kind und Jugendliche länger dort und kenne mich deshalb ein bisschen aus. Für mich gibt es keine mystischere, geheimnisvollere Landschaft. Wenn es irgendwo echte Feen und Fabelwesen gibt, dann da. Also habe ich angefangen zu recherchieren und ganz viele wunderbare Bücher zu Schottischen Fabeln und Mythen und Legenden gelesen. Kaum jemand weiß zum Beispiel, was es UNTER Eddinburgh zu entdecken gibt. Es gibt auch mehrere tolle Karten von Schottland mit den verschiedenen Wesen und wo sie zu finden sind. Ich habe in Band 1 erstmal nur Nessie, den Beithir und die Selkies erzählt. Aber es werden noch ganz viele andere schottische Wesen auftauchen. Da gibt es so viele und alle sind faszinierend.
Leo: Wenn du einen Tag als Schülerin an der Nightmore Academy verbringen dürftest: An welchem Unterricht würdest du teilnehmen wollen – und bei welchem Lehrer?
Vanessa Walder: Nicht am Folterunterricht, vielen Dank! Ich würde gerne in einem Ruderboot auf den Wellen des Sees schaukeln und dem Ungeheuer von Loch Ness zuhören. Aber in Band 2 taucht auch der Geist von Mary, Queen of Scots auf, die „Kompotte & Komplotte“ unterrichtet – Kochen und Staatskunde. Das würde mich auch sehr interessieren.
Leo: Was ist deine persönliche Lieblings-Ecke auf dem Schulgelände? (z. B. das Blutballfeld, der Friedhof, der Burggraben mit Krokodilen…)
Vanessa Walder: Das Seeufer. Im See wohnt ein krakenartiges Monster, das bei Sonnenuntergang und Sonnenaufgang tanzt und seine Tentakel dabei aus dem Wasser streckt. Das würde ich gerne mal sehen. Wow. Und schon freue ich mich auf Band 3!
Leo: Wie würdest du die Freundschaft zwischen Fynn und Sinista in einem Satz beschreiben?
Vanessa Walder: Fynn bringt Sinistas fürsorgliche Seite zum Vorschein und Sinista kitzelt Fynns Mut an die Oberfläche – eine Freundschaft, die in beiden das Beste hervorruft, ohne einen zu verbiegen.
Leo: Welche besonderen Herausforderungen bringt es mit sich, für Leseanfänger zu schreiben?
Vanessa Walder: Es gibt tausend Regeln für Erstleser. Die Satzlänge, die Wortlänge, die Anzahl der Zeilen und Sätze pro Seite und der Anschläge pro Kapitel. Keine Fremdwörter, keine komplizierten grammatikalischen Konstruktionen. Du solltest nicht voraussetzen, dass Erstleser wissen, zu wem eine direkte Rede gehört, auch wenn nur zwei Leute miteinander reden und der andere gerade was gesagt hat. Wir haben bei diesem Buch viele dieser Regeln verbogen. Ich habe mir oft gedacht, dass ich gerne mehr Platz hätte, mehr Athmosphäre schreiben würde, mehr beschreiben. Aber am Ende liegt genau darin die Herausforderung: mit wenigen Buchstaben eine Welt und Charaktere zu zeichnen, die im Leser leben. Ich weiß dieses ökonomische Schreiben immer mehr zu schätzen, wo du dich bei jeder Zeile fragst, ob sie nötig ist.
Leo: Was liest du selbst gerne, wenn du mal nicht schreibst – und liest du auch Kinderbücher?
Vanessa Walder: Ja, ich lese auch Kinderbücher. Ich lese sehr viel, aber kaum privat. Also selten so, dass ich einfach nach Geschmack entscheide, was ich gerne lesen möchte. Ich lese, um Stoffe für Filme oder Serien zu finden oder um für ein neues Projekt zu recherchieren. Im Moment bin ich ganz tief im Thema Hirsche und Wölfe im Yellowstone National Park und Trophische Kaskade. Die Recherche nähert sich dem Ende, dann fange ich an, den 5. Band von „Das geheime Leben der Tiere“ zu schreiben. Davor waren es Dutzende Bücher über Pflanzen und ihre Sinneswahrnehmungen. Kräuter und wie man sie verwendet. Die Heilkräfte verschiedener Inhaltsstoffe. Das war für den 3. Band von „Flora Magica“. Das klingt im ersten Moment seltsam, dass jemand nicht nach Geschmack entscheidet, was er liest, ich weiß. Aber auf die Art sind so viele Themen in mein Leben gekommen, mit denen ich mich sonst nie beschäftigt hätte.
Leo: Nightmore ist perfekt für Kinder, die sich ein bisschen gruseln und viel lachen wollen. Was wünschst du dir, dass junge Leserinnen und Leser aus der Geschichte mitnehmen – außer Werwolfwissen und Blutballregeln?
Vanessa Walder: Da sagen Kinderbuchautoren dann traditionell, dass es um innere Werte geht und Zusammenhalt und das Hinterfragen von Vorurteilen – das stimmt auch alles. Aber mit dieser Serie will ich nur eines: Lesespaß erzeugen! Ob und was ein Leser davon mitnimmt, ist für mich zweitranging. Ich will, dass Kinder zwischen 7 und 12 dieses Buch lesen und sich amüsieren und lachen und gespannt sind und es am besten in einem Rutsch durchlesen. Das ist keine Geschichte, die man erstmal verdauen muss, die einem im Magen liegt. Das ist ein Snack. Und danach soll der Hunger größer sein als vorher. Der Lesehunger. Dann sollen sie sich gleich das nächste Buch schnappen. Egal, was das ist. Was bleiben soll, ist das Bauchgefühl: Lesen = Spaß. Das ist in den letzten Jahren leider verloren gegangen. Immer weniger Kinder können oder wollen lesen. Viele Erstlesebücher richten sich aber nur an kleine Kinder und erzählen dann sehr zahme, brave Geschichten. Was, wenn der „Erstleser“ zehn ist? Dann muss ihn die Geschichte anders packen. Die Kinder wachsen mit TikTok und YouTube auf. Da sagt ihnen das Video in den ersten 2 Sekunden, worum es geht. Alles hängt an den Hooks. Daran habe ich mich bei diesem Buch orientiert. Es erzählt nicht erst, wie traurig Fynn ist und dass er ganz neu und verloren an eine Schule kommt, um dann im 2. Kapitel mit der Action anzufangen. Auf der 2. Seite klettern wir mit Fynn aus dem Fenster und hängen über dem Burggraben mit den Krokodilen. Ich hoffe, dass Kinder dieses Buch verschlingen – und am Ende mehr Bücher wollen. Die Jahre der Bücherwürmer und Leseratten und Büchereulen sind vorbei. Vielleicht brauchen wir jetzt Bücherkrokodile und Lesemonster?
Leo: Wenn du selbst ein Wesen aus der Nightmore-Welt sein müsstest – wärst du lieber Vampir, Werwolf oder Dämonin?
Vanessa Walder: Dämonin. 100%.
Leo: Stell dir vor, du darfst eine Halloweenparty an der Nightmore Academy planen – was steht auf dem Buffet?
Vanessa Walder: Uuuuuh. Was für eine Idee! Für die Gäste auf jeden Fall Augapfelstrudel, Schleimkuchen, Spinnenkekse und Madentorte. Für mich wär’s dann aber doch etwas konservativer, aber ich kann meine Schokoladentaler ja heimlich futtern.
Leo: Hast du als Kind selbst gerne Gruselgeschichten gelesen – und wenn ja, welche war deine liebste?
Vanessa Walder: NEIN! Ich hab nicht gern Grusel gelesen. Ich hab’s trotzdem gemacht und mich dann lange gefürchtet. Ich habe als Kind einen Band der ??? gelesen, in dem ein Phantom vorkam. Als das zum ersten Mal aufgetaucht ist (es hat Klavier gespielt), hatte ich schon genug. Ich hab das Buch ins Eisfach gepackt. Übrigens scheine ich mit der Methode nicht allein gewesen zu sein. Das kam nämlich (Jahre später) in einer Episode der Serie Friends auch vor. Nur war es da Stephen Kings Shining. Das hab ich auch gelesen, als ich etwas älter war. Schrecklich! Ich hatte Albträume. Aber es ist halt leider sehr gut geschrieben.
Ich wollte auf keinen Fall Grusel in einem Ausmaß erzählen, das Kindern echte Ängste bereitet. Ich will nicht, dass mein Buch im Eisfach landet. Davon hat keiner was. Es gibt ein bisschen Grusel und sehr viele gruselige Gestalten, aber der Grusel wird immer wieder durch Witze gebrochen. Trotzdem weiß ich von einer Testleserin, dass sie auf Seite 1 abgebrochen hat. Da hat Fynn ein „blutiges Steak“ dabei, mit dem er die Krokodile füttern will. Das Wort „blutig“ hat gereicht fürs Eisfach…
Vanessa Walder schafft es wie kaum eine andere, Geschichten mit Tiefgang, Witz und einer Portion Gänsehaut zu erzählen – und das nicht nur auf dem Papier. Auch im echten Leben ist sie jemand, der andere mitreißen, ermutigen und weiterbringen kann.
Ich bin dankbar für dieses erneute Interview, für Vanessas Vertrauen – und vor allem für unseren regelmäßigen Austausch seit unserem ersten Gespräch. Wer „Nightmore“ noch nicht gelesen hat, sollte dringend einen Blick riskieren. Es lohnt sich. Und ich bin mir sicher: Auch Band 2 wird wieder so wild, klug und unheimlich unterhaltsam wie Vanessa selbst.